Marie Elisa Scheidt über ihren brandneuen Film FLIEHKRAFT: “Es gibt kein rein beobachtendes Arbeiten.”

Marie Elisa Scheidt mischt die Welt der Dokumentarfilme ordentlich auf. Ihr Film ICH PACKE MEINEN KOFFER lief auf unzähligen nationalen und internationalen Festivals und wurde zudem auf dem Alternative Film/Video Festival in Belgrad mit dem Preis „Important Cinematic Work“ ausgezeichnet.

Mit 22 Jahren war Elisa mit diesem Film auf der DOK Leipzig 2009 die wohl bisher jüngste Teilnehmerin in der Geschichte des weltweit ältesten Dokumentarfilmfestivals. Ihr neuestes Projekt in Zusammenarbeit mit Alexandra Wesolowski beschäftigt sich speziell mit der Vergangenheit eines ehemaligen Häftlings des DDR-Regimes. Damit schneidet die junge Filmemacherin Themen wie Willkür, Isolation und Urängste an. Ich bin sehr gespannt, denn schon ihre früheren Werke haben mich bewegt. Einen kleinen Trailer gibt es schon. Für Kunst und so hat Elisa ein paar Einblicke hinter die Kulissen gewährt.

Um was wird es in der Doku „Fliehkraft“ genau gehen?

Marie Elisa Scheidt: Matthias hat fünf Monate in Isolationshaft zugebracht, verurteilt durch ein DDR-Gericht wegen ungesetzlichen Grenzübertritts. Abgeschnitten von der Außenwelt, lebte er von Tagträumen und ganz banalen Überlebensstrategien. Schlafentzug, Bilderlosigkeit, extreme Sehnsucht, vor allem nach Wasser, und nach dem Blick auf einen Fetzen Himmel.

Das ist nun 23 Jahre her und Matthias kommt immer noch nicht von seiner alten Zelle los: Bis heute verfolgt ihn die Erfahrung. Er konfrontiert sich mit der Vergangenheit indem er Führungen durch das Gefängnis leitet, in welchem er einst inhaftiert war: Durch die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin – Hohenschönhausen.

Was reizt Dich besonders an dem Thema?

Marie Elisa Scheidt: Ich wurde 1987 in Dresden geboren. Die ehemalige DDR war für mich persönlich stets nur ein verschwommenes Konglomerat aus geschönten Erzählungen und klischeebesetzter Nostalgie. Erinnerungen habe ich keine. So entstand in mir der Wunsch und das Bedürfnis, mich mit der Geschichte meines Geburtslandes auseinanderzusetzen. Auf dem Hintergrund dieser Grundmotivation interessiert mich zum einen die Frage, was es bedeutet, ein „soziales Wesen“ zu sein. Was passiert mit dem „Ich“, wenn das „Du“ und damit jegliche Ansprache wegfällt?

Wenn menschliche Kontakte ein Grundnahrungsmittel sind, was passiert mit Menschen, die man gewaltsam davon ausgeschlossen hat? In Matthias‘ Fall hat man eine Ur-Angst instrumentalisiert, um menschlichen Willen zu brechen.

Zum anderen bin ich der Ansicht, dass jeder diese Erlebnisse kennt, die zu einem Teufelskreis, einer festgefahrenen Routine, einem selbstauferlegten Freiheitsentzug führen können. Matthias‘ Geschichte kann somit auch in ihren Extremen eine Identifikationsfläche für viele andere sein. Im Zeitalter zunehmender Vernetzung gekoppelt mit zunehmender Einsamkeit, betrifft zudem die Frage, was Isolation mit Menschen macht, jedes Mitglied unserer Gesellschaft.

Dein Stil eine Dokumentation anzugehen ist anders als „die alte Schule“, die „nur“ die Kamera draufhält. Welche Elemente sind Dir an einer Doku wichtig?

Marie Elisa Scheidt: Dass „die alte Schule nur die Kamera draufhält“, halte ich für einen Trugschluss. Die narrative Freiheit war im Dokumentarfilm schon in dessen Geburtsstunde gegeben: 1922 inszenierte Robert Flaherty eine gecastete Inuitfamilie und verband den fiktionalen Teil mit rein beobachtenden Aufnahmen in „Nanook of the North“. Zur selben Zeit sprang Benjamin Christensen in „Häxan: Witchcraft Through the Ages“ von einer Realitätsebene zur nächsten und verknüpfte Fakt und Fiktion, um eine Analogie zwischen mittelalterlichem Hexenglauben und modernen „psychischen Krankheiten“ zu ziehen.

Es ist wohl die in den 1950ern aufgekommene, rein beobachtende Dokumentarfilmbewegung des „Direct Cinema“, die auch heute noch die Erwartungshaltungen an das Genre bestimmt.

Doch ich habe die Erfahrung gemacht, dass es kein rein beobachtendes Arbeiten gibt. Es ist unvermeidbar, die Realität des Films zu manipulieren und auch in die Lebenswelt des Protagonisten einzugreifen: Ein Dokumentarfilm bewegt nicht nur sein Publikum, sondern auch etwas in den Köpfen seiner Macher und seiner Protagonisten. Matthias beschloss wenige Monate nach Abschluss der Dreharbeiten, seine Arbeit in Hohenschönhausen niederzulegen.

Ich glaube nicht an die Doktrin, dass sich ein guter Dokumentarfilmer „zurücknehmen“, sich also als Mäuschen in die Ecke verkriechen und von dort aus die Realität einfangen muss. Leider findet man in diesem Fall auf seinen Filmrollen und Videobändern oft nicht sehr viel mehr als bloße Fassaden wieder, die zwar das Geschehen faktisch korrekt abbilden, jedoch keine tiefere Wahrheit transportieren.

Der kanadische Filmemacher Guy Maddin sagte einmal: „Truth is better than facts.“ Genau diese Einstellung habe ich auch zum Dokumentarischen.

Was dabei jedoch stets Priorität haben muss, ist der Respekt,  die Loyalität und das Vertrauen zwischen Protagonist und Filmemacher. Ist diese Voraussetzung erfüllt, kann ein Dokumentarfilm genauso expressiv und frei in der Gestaltung sein wie jeder Spielfilm. Und diese Freiheit haben wir uns auch bei FLIEHKRAFT genommen.

FLIEHKRAFT ist ein dokumentarisches Roadmovie. Wie in dem klassischen Filmgenre, das in den 1960ern in den USA aufgekommen ist, spielt die Handlung auf Landstraßen, fernab von Zivilisation, Regeln und Verpflichtungen. Die Reise wird zur Metapher für die Suche nach Freiheit und Identität. Verbunden mit Matthias‘ Geschichte werden die Erwartungshaltungen, die das Genre impliziert, ad absurdum geführt. Es ist paradox: Matthias‘ innere Unruhe hört erst für einen Moment auf, wenn er nicht das kleinste menschliche Geräusch mehr vernimmt. Jedes Mal, wenn er heute seine Ruhe sucht, ist es eine Reinszenierung der Gefängnissituation auf der einen Seite, eine Suche nach Freiheit auf der anderen.

Wo werden wir die Doku das erste mal sehen können?

Marie Elisa Scheidt: FLIEHKRAFT startet diesen Sommer in die Festivalsaison. Ich bin selbst sehr gespannt, was das Premierenfestival sein wird. Da heißt es: Daumen drücken!

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Natürlich halte ich Euch auf dem Laufenden, wo der Film zu sehen ist. In der Zwischenzeit findet Ihr Ausschnitte der Vorgängerwerke auf der Website von Marie Elisa Scheidt.

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Bilder © Friede Clausz

4 Replies to Marie Elisa Scheidt über ihren brandneuen Film FLIEHKRAFT: “Es gibt kein rein beobachtendes Arbeiten.”

  1. Silent Rocco sagt:

    Mein Lieblingsprojekt von Elisa: ICH LIEBE DICH, ICH LIEBE DICH NICHT …ein komplexer Doku-Fiction-Film über die Lebensgefährten von Schlaganfallpatienten (die anderen und unbedachten Opfer) mit unheimlich atmosphärischem Spielfilmteil. Komplex, wunderschön, einzigartig und extrem emotional.

    Tailer: http://www.vimeo.com/8020332

    Dieser Film startet momentan zeitgleich in die diesjährige Festivalsaison und auch diesem Wünsche ich viel Erfolg, viele Screenings und Preise.

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